Krisenmanagement

Beim Thema Krisenmanagement geht es um den organisatorischen Ablauf schneller oder besonders schwieriger Entscheidungen in Krisenzeiten im Unterschied zu normalen Entscheidungsprozessen.

Eine neue Perspektive

In einer Teal-Organisation sind alle an der Entscheidungsfindung beteiligt, so dass die kollektive Intelligenz die bestmögliche Reaktion hervorbringen kann. Jede historische Phase hat eine andere Perspektive auf das Krisenmanagement und sehr unterschiedliche Praktiken entwickelt:

Rote Organisationen

Im roten Paradigma ist die Organisation aufgrund ihres kurzfristigen Planungshorizonts und ihres reaktiven Charakters mit Krisen vertraut. Entscheidungen können aus einer Laune heraus getroffen und mit Befehlsgewalt bei den Mitarbeitenden durchgesetzt werden.

Bernsteinfarbene Organisationen

Im bernsteinfarbenen Paradigma ist die Organisation stabiler und berechenbarer. Prozesse und Verfahrensweisen bestimmen die Art der Aufgabenerledigung. Es wird davon ausgegangen, dass Mitarbeitende Anleitung brauchen. Bei unberechenbaren Krisen treffen der CEO und die oberste Führungsebene Entscheidungen, aus denen Anordnungen für die Mitarbeitenden entlang der Hierarchie werden. Von ihnen wird erwartet, diese zu befolgen und nicht in Frage zu stellen.

Orange Organisationen

Im orangen Paradigma basiert die Entscheidungsfindung auf Effektivität – gemessen an den Auswirkungen auf Kennzahlen wie Gewinn und Marktanteil – sowie eher auf Fachwissen als auf Hierarchie. In einer Krise kann ein Stab ausgewählter Consultants zu einer vertraulichen Besprechung zusammenkommen und den CEO und Vorstand beraten. Das Top-Management steht unter dem Druck, die Kontrolle wiederzuerlangen. Infolgedessen kann die Entscheidungsfindung bei leitenden Angestellten zentralisiert werden. Die einmal getroffenen Entscheidungen werden kommuniziert mit der Erwartung einer schnellen Umsetzung.

Grüne Organisationen

In wertegeleiteten, zweckorientierten grünen Organisationen tragen Dezentralisierung und Befähigung dazu bei, dass alltägliche Entscheidungen von der Belegschaft an der Basis ohne Zustimmung des Managements getroffen werden können. Selbst bei weitreichenden Entscheidungen wird vor einer Handlung der Konsens seitens der Geschäftsleitung gesucht und geschätzt. In Krisen wird diese Vorgehensweise zur Herausforderung. Bei sehr umstrittenen und zeitkritischen Entscheidungen kann es sein, dass der CEO eingreift, das Konsensmodell außer Kraft setzt und selbst eine Entscheidung trifft.

Teal-Organisationen

Im Teal-Paradigma ist jeder an der Entscheidungsfindung beteiligt, damit die kollektive Intelligenz für eine optimale Reaktion genutzt werden kann. Wenn der Beratungsprozess außer Kraft gesetzt werden muss, sind Umfang und Dauer dieser Unterbrechung begrenzt.

In der Praxis

Beibehaltung des Beratungsprozesses

Das reguläre Modell zur Entscheidungsfindung bei Teal-Organisationen ist der Beratungsprozess mit der verteilten Entscheidungsfindung. Dies ist auch der bevorzugte Ansatz zur Bewältigung von Krisensituationen.

Vertrauen in den Prozess

Krisenmanagement mittels Beratungsprozess ist die ultimative Demonstration von Selbstmanagement. In Krisensituationen können heikle und dringende Entscheidungen negative Auswirkungen auf Belegschaft und Organisation haben, z.B. der Verlust von Arbeitsplätzen oder der Verkauf von Unternehmensteilen.

Angesichts früherer Organisationsmodelle stellt sich natürlich die Frage, ob die Mitarbeitenden in solch heiklen Situationen überhaupt in die Entscheidungsfindung einbezogen werden können.

Führungskräfte in Teal-Organisationen stehen jedoch vor der Herausforderung, sich auf den Beratungsprozess verlassen zu müssen. Sie riskieren eine unerwartete Mitarbeiterreaktion und die Möglichkeit, dass die Dinge im Chaos oder in kontroversen Diskussionen enden. Wenn der Beratungsprozess jedoch nicht genutzt wird, besteht die Gefahr, das Vertrauen der Belegschaft zu verlieren durch Zweifel an ihrer Fähigkeit, die Situation lösen zu können. Wenn Mitarbeitende in einer Krise voll und ganz in den Beratungsprozess einbezogen werden, sind sie auch aufgefordert, die Verantwortung für schwierige Entscheidungen mit zu übernehmen, und ihnen wird zugetraut, einen Beitrag leisten zu können. Das stärkt das Selbstvertrauen und hilft der Organisation zu wachsen.

Siehe unten: FAVI und Buurtzorg

Suspendierung des Beratungsprozesses

Gelegentlich erfordert eine Krise aufgrund des Ausmaßes oder der Dringlichkeit der Situation eine Suspendierung des Beratungsprozesses. Unter diesen Umständen kann die Leitung beschließen, den Beratungsprozess vorübergehend auszusetzen.

Dies mag dann akzeptabel sein, wenn

  • die Gründe für die Aussetzung vollständig offengelegt werden;
  • die Einschränkungen (Zeitraum, Bereiche der Entscheidungsfindung usw.) erläutert werden;
  • die Entscheidungsbefugnis an eine fähige Person und nicht an die Leitung übertragen wird.

Siehe unten: AES

Selbstmanagement

Die Bewältigung einer Krise im Rahmen des Beratungsprozesses stellt das Selbstmanagement auf die Probe. Die Führungskräfte müssen ihren Wunsch nach Verantwortungsübernahme zurückstellen und darauf vertrauen, dass die Belegschaft wirksame Lösungen liefert. Es herrscht die Überzeugung, dass die Mitarbeitenden verantwortlich, engagiert und kompetent genug sind.

Ganzheitlichkeit

Durch die Beibehaltung des Beratungsprozesses selbst in Krisensituationen sind die Führungskräfte gezwungen, mit der Furcht zu leben, dass ein Kontrollverlust die Organisation gefährden, Chaos verursachen und die Interessen der Anspruchsgruppen aufs Spiel setzen könnte. Krisensituationen ermöglichen Führungskräften, Ganzheitlichkeit zu demonstrieren, indem sie transparent und möglicherweise verletzlich sind und die Beteiligung ihrer Kollegen aufrichtig unterstützen. Die Mitarbeitenden wiederum sind aufgefordert, Verantwortung für ihre eigenen Gefühle in Situationen zu übernehmen, die unerwünschte Folgen haben könnten.

Krisensituationen bieten einer Organisation die Möglichkeit, gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Dies führt oft zu wirkungsvolleren Ergebnissen als von einer Führungskraft oder einer Beratergruppe im stillen Kämmerlein ausgearbeitete Lösungsansätze. Wenn eine Krise erfolgreich bewältigt wird, erfährt die Organisation als Ganzes einen Wachstumsschub zu mehr Ganzheitlichkeit.

Evolutionärer Zweck

Wenn Mitarbeitende in einer Krise in den Beratungsprozess einbezogen werden, sind sie aufgefordert, die Vorgänge zu verstehen und sich aktiv an der Entscheidungsfindung zu beteiligen. Entscheiden, was zu tun ist, erfordert eine (erneute) Verbindung mit dem Zweck der Organisation. Die Erfüllung des evolutionären Zwecks wird zu einem wichtigen Faktor bei der Entscheidungsfindung. Ohne diesen Bezugspunkt wird diese leicht von Eigeninteressen und -bedürfnissen dominiert.

Häufig gestellte Fragen

Die Auffassung "Verantwortung liegt bei uns" ist ein Erbteil des "heroischen Managements". Theoretisch klingt das unbestreitbar. Möglicherweise kommen die besten Antworten aus der Praxis. Die Beispiele für Krisenmanagement bei Favi, Buurtzorg und AES zeigen, wie diese Teal-Organisationen konstruktiv mit Krisen umgegangen sind.

Konkrete Fälle als Inspiration

AES unterbricht den Beratungsprozess so behutsam wie möglich.

Im Herbst 2001, nach den Terroranschlägen und dem Zusammenbruch von Enron, stürzte der Aktienkurs von AES ab. Das Unternehmen benötigte Zugang zu den Kapitalmärkten, um seine hohe Verschuldung zu bedienen, fand diese aber plötzlich geschlossen. Rasches und drastisches Handeln war erforderlich, um den Konkurs zu verhindern. Die entscheidende Frage lautete: Wie viele und welche Kraftwerke müssten verkauft werden, um das nötige Geld zu beschaffen? Bei 40.000 Mitarbeitern, die über die ganze Welt verteilt sind, konnte Dennis Bakke, der Vorstandsvorsitzende, kaum alle zusammenrufen und sich wie Zobrist bei FAVI auf eine Seifenkiste stellen. Und das Problem war so komplex, dass er nicht einfach einen Blogpost mit zwei Alternativen veröffentlichen konnte, wie es Jos de Blok bei Buurtzorg tat. Bakke entschied sich für eine Vorgehensweise, die den Beratungsprozess vorübergehend aussetzte, und zwar auf eine Weise, die das Risiko, das Vertrauen in die Selbstverwaltung zu untergraben, dennoch minimierte. Er arbeitete nicht hinter verschlossenen Türen mit seinem Führungsteam einen Plan aus, sondern kündigte öffentlich an, dass für eine begrenzte Anzahl von - allerdings kritischen - Entscheidungen während eines begrenzten Zeitraums Entscheidungen von oben nach unten getroffen werden würden. Für alle anderen Entscheidungen würde das Beratungsverfahren in Kraft bleiben. Um die beste Vorgehensweise zu ermitteln und die schwierigen Entscheidungen zu treffen, ernannte Bakke Bill Luraschi, einen jungen und brillanten Chefsyndikus. Luraschi galt weder als einer der ranghöchsten Führungskräfte noch als jemand, der in Zukunft eine führende Rolle anstreben würde. Das Signal war eindeutig: Die obersten Führungskräfte der Organisation wollten nicht mehr Macht ausüben. Die Entscheidungsfindung von oben nach unten würde von jemandem übernommen werden, der nicht nach Macht strebte, und sie würde wirklich nur vorübergehend sein.

Wenn der Beratungsprozess in Krisenzeiten unterbrochen werden muss, können diese beiden Leitlinien dazu dienen, das Vertrauen in die Selbstverwaltung aufrechtzuerhalten: volle Transparenz über den Umfang und den Zeitrahmen der Entscheidungsfindung von oben nach unten und Ernennung einer Person, die diese Entscheidungen trifft und die nicht im Verdacht steht, nach Beendigung der Krise weiterhin solche Befugnisse auszuüben.

Joe de Blok wendete eine Liquiditätskrise ab, indem er seine Krankenschwestern aufforderte, härter zu arbeiten

Buurtzorg geriet 2010 in eine Krise und meisterte sie mit Hilfe des Beratungsprozesses. Das junge Unternehmen wuchs rasant, als Jos de Blok erfuhr, dass Krankenkassen drohten, Zahlungen in Höhe von 4 Millionen Euro an Buurtzorg zurückzuhalten, und dies mit technischen Gründen begründeten (der wahrscheinlichere Grund: Die Versicherungen wollten Buurtzorg signalisieren, dass es auf Kosten etablierter Anbieter zu schnell wächst). Ein Liquiditätsengpass zeichnete sich ab. Jos de Blok schrieb einen internen Blogbeitrag an die Krankenschwestern, in dem er das Problem darlegte. Er schlug zwei Lösungen vor: Entweder könnte Buurtzorg sein Wachstum vorübergehend stoppen (neue Teams kosten zunächst Geld) oder die Krankenschwestern könnten sich verpflichten, die Produktivität zu steigern (mehr Kundenarbeit innerhalb der Vertragszeiten). In den Blog-Kommentaren entschieden sich die Krankenschwestern mit überwältigender Mehrheit dafür, härter zu arbeiten, weil ihnen die Alternative nicht gefiel: Ein langsameres Wachstum hätte bedeutet, Kunden und Krankenschwestern, die sich Buurtzorg anschließen wollten, abzulehnen. Innerhalb von ein oder zwei Tagen wurde eine Lösung für das Geldproblem gefunden (und nach einiger Zeit zahlten die Versicherungsgesellschaften schließlich die einbehaltenen Gelder aus).

CEO Jean-Francois Zobrist bittet die Belegschaft infolge des ersten Golfkriegs um Hilfe.

Es kam häufig vor, dass Zobrist, wenn er bei FAVI vor schwierigen und kritischen Entscheidungen stand, bereitwillig zugab, dass er Hilfe brauchte, um eine gute Antwort zu finden. Spontan ging er durch die Werkshalle und bat alle, die Maschinen anzuhalten. Er stieg auf eine Seifenkiste und teilte allen das Problem mit, um eine Lösung zu finden. Die erste große Krise unter seiner Leitung kam 1990, als die Auftragseingänge für Kraftfahrzeuge infolge des ersten Golfkriegs stark zurückgingen. Die Lagerbestände stapelten sich, und es gab einfach nicht genug Arbeit für die Belegschaft. Kapazitäten und Kosten mussten gesenkt werden.

Es gab nur eine offensichtliche Lösung: Zeitarbeitskräfte entlassen. Aber bei FAVI wurde niemand wirklich als Zeitarbeitskraft angesehen. Aus arbeitsrechtlichen Gründen wurden neue Mitarbeitende 18 Monate lang als Zeitarbeitskräfte eingestellt, bevor ihnen ein fester Vertrag angeboten wurde. Die meisten von ihnen wurden bereits als vollwertige Mitglieder ihrer Teams betrachtet. Mit der Entlassung der Zeitarbeitskräfte würde FAVI seine moralische Verpflichtung ihnen gegenüber aufkündigen und Talente verlieren, in die man investiert hatte, während der Aufschwung vielleicht nur einige Monate später eintreten würde. Mit vielen Fragen und ohne klare Antworten fand sich Zobrist auf der Seifenkiste wieder und teilte sein Dilemma mit allen Mitarbeitenden dieser Schicht (einschließlich den Zeitarbeitskräften, deren Schicksal diskutiert wurde). Die Leute im Publikum riefen ihm Fragen und Vorschläge zu. Ein Arbeiter sagte: „Warum arbeiten wir diesen Monat nicht alle nur drei Wochen und bekommen drei Wochen Lohn, und wir behalten die Zeitarbeiter? Wenn es sein muss, machen wir das Gleiche auch im nächsten Monat." Viele nickten, und der Vorschlag wurde zur Abstimmung gestellt.

Zu Zobrists Überraschung wurde er einstimmig angenommen. Die Mitarbeitenden hatten soeben einer vorübergehenden Lohnkürzung um 25% zugestimmt. In weniger als einer Stunde war das Problem gelöst, und der Maschinenlärm hallte wieder durch die Fabrik. Zobrists Fähigkeit, seine Angst im Zaum zu halten, ebnete den Weg für einen radikal produktiven und konstruktiven Ansatz und zeigte, dass es möglich ist, Mitarbeitende mit einem schwierigen Problem zu konfrontieren und es selbstorganisiert lösen zu lassen.

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